Die Kritische Theorie ist Marxismus in reflektierter Form. Ihre These ist: Mit dem Faschismus ist die bürgerliche Aufklärung gescheitert, mit dem Stalinismus das Versprechen der sozialistischen Revolution. Kriege, Folter, Verfolgung und Vertreibung von Menschen gehen weiter als hätte es nie den Versuch gegeben, das Glück einer und eines jeden zu verwirklichen und vernünftige Verhältnisse herzustellen. Ihre Analyse ist weiterhin aktuell angesichts von Ausbeutung der Menschen und der Natur, Antisemitismus und Rassismus, sexulisierter Gewalt und ökologischer Zerstöung bis hin zum sechsten großen Artensterben, der Vernichtung von Lebensgrundlagen für einen großen Teil der Menschheit. Bemerkenswert ist, dass Marcuses These aus den 1960er Jahren erneut zu gelten scheint: die Gesellschaft ist ohne Opposition. Emanzipatorisches Denken und wissenschaftliche Einsicht bleiben weitgehend folgenlos und finden sich nur in Minderheiten. Doch in den vergangenen Jahrzehnten hat es nicht nur die Erfahrungen umfassender Widerstände und Protestbewegungen gegeben, sondern der Kapitalismus hat sich in seiner Gesamtheit verändert. Angesichts der veränderten Formen von bürgerlicher Herrschaft muss sich auch die kritische Gesellschaftstheorie erneuern, und es muss darüber nachgedacht werden, wie aus der emanzipatorischen Tendenz ein Hauptstrom der gesellschaftlichen Entwicklung wird.